Wirtschaftswurm-Blog

Neue Diskussion über die Hartz-Reformen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands

relative Lohnstückkosten Ausschnitt

Die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wurde nicht erst durch die Hartz-Reformen wiederhergestellt. Das ist die wichtigste Aussage der Autoren von „From Sick Man to Europe to Economic Superstar“. Mit Blick auf die Entwicklung deutschen Arbeitslosenzahlen bleibt ihre Analyse aber unvollständig.

Immerhin, der Artikel aus der aktuellen Ausgabe des wirtschaftswissenschaftlichen Magazins „Journal of Economic Perspective“ (Untertitel: „Germany’s Resugent Economy“) fand Erwähnung bis hin zu Spiegel Online. Und auch Blogger Mark Schieritz hat sich über ihn einige Gedanken gemacht. Dazu unten mehr.

Kern des Artikels von Christian Dustmann, Bernd Fitzenberger, Uta Schönberg und Alexandra Spitz-Oener ist die Aussage, dass Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit nicht erst mit den Hartz-Reformen verbessert hat, sondern schon seit etwa 1995. Bereits damals begannen die Lohnstückkosten relativ zu denen der deutschen Handelspartner zu sinken. So ist der Index der relativen Lohnstückkosten im Zeitraum 1995-2012 um 30% gesunken. Dies sieht man auch in folgender Grafik der Autoren:

Relative Lohnstückkosten 1994-2012 für Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die USA

Quelle: Dunstmann u.a.

Christian Dustmann & Co. führen die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit auf zwei Ursachen zurück: Hohe Produktivitätssteigerungen im Industriesektor einerseits und geringe Lohnsteigerungen andererseits. Dabei waren die Lohnsteigerungen in der Exportindustrie selbst noch relativ hoch. Sie profitierte aber von der schwachen Lohnentwicklung im Dienstleistungssektor und hier vor allem von sinkenden Löhnen bei den unteren Einkommensgruppen. Immerhin beruhen bei einem typischen deutschen Exportprodukt mehr als 51% der Wertschöpfung auf inländischen Vorleistungen, die nicht aus der Exportindustrie selbst stammen.

Den Grund für die Lohnzurückhaltung seit etwa 1995 sehen die vier Autoren darin, dass es in Deutschland Unternehmen problemlos möglich ist, aus dem Tarifverband auszusteigen. Öffnungsklauseln ermöglichen zudem eine differenzierte Lohnentwicklung selbst bei weiterer Gültigkeit der Tarifverträge.

Wer als Linker die Studie benutzt, um gegen die ungeliebten Hartz-Reformen zu argumentieren, sollte also aufpassen. Die Autoren wenden sich sehr scharf gegen eine zentralisierte Lohnfindung, etwa in Form des nun vorgesehenen Mindestlohns. Sie sehen genau darin die Probleme der europäischen Wettbewerber begründet.

Recht geben muss man allerdings zum Teil Mark Schieritz. Denn die gesamte deutsche Diskussion um die internationale Wettbewerbsfähigkeit war schon in den Jahren der Hartz-Reformen 2002-2005 eine reine Fetischdiskussion. Dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit damals das geringere Problem war, hätte man übrigens bereits an dem stetigen und steigenden Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands seit dem Jahr 2000 erkennen müssen.

Soweit, so gut. Doch muss man auch feststellen, dass die deutsche Arbeitslosigkeit bis 2005 hoch blieb und sogar noch stieg. Die Arbeitslosenquote erreichte erst 2005 ihren Höchststand mit 11,7%. Auch die Zahl der Erwerbstätigen stieg 1995-2005 kaum, danach aber deutlich. Das bedeutet: Der Arbeitsmarkt reagierte nicht auf die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.

Der Arbeitsmarkt reagierte erst, als der weiter verschärfte Lohndruck durch die Hartz-Reformen es ermöglichte, vor allem im Dienstleistungssektor und vor allem für den Binnenmarkt viele gering bezahlte Stellen zu schaffen.


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22 Kommentare

  1. Häschen sagt

    Die gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit heißt nichts anderes als Arbeitskräfte abbauen. Das ist zwar nicht alles aber der Kern. Die Jobs sind verloren. Ob der Verlust so ein großer ist steht auf einem anderen Blatt.

    Sinken die Löhne steigen die Gewinne. Zumal Löhne/Gehälter an sich als Fixkosten werden betrachtet in der Industrie mehr als weniger ist es so. Es können allein die Zulieferer nicht ewig billiger werden. Ehrlich. Wenn ein Zulieferindustrie ausgerichtet ist nach ‚der‘ Industrie und deren Bedarfen, dann sollte auch der bessere Kollektiv gelten. In dem Sinne wirkt der Mindestlohn an sich befriedend. Er ist ein Element der Primären Einkommensverteilung.

    Was heißt ein niedriger Lohn? Der Arbeitgeber bekommt wofür er bezahlt. Wer nicht ordentlich zahlt bekommt keine Leistung oder potentiell weniger. Wünschen kann er sich etwas anderes, aber auch Menschen wenden das Mindestprinzip an. Bei konstanter Kaufkraft weniger Leistung.

    Wenn der Teritärsektor 75% ausmacht gibt es an sich kein Grund mehr, dass die Industrie die Löhne vorgibt. In dem Sinne war die Betrachtung auf Unternehmensebene durchaus sinnvoll. Regional soll ein Kollektivvertrag sein, Branche ist ob der Spezialisierung zu grob. Gut wäre ein ein Gruppierung über Unternehmen.

    Mindestlohn ist ein Element der primären Einkommensverteilung und weniger ein Element der Subvention. Das ist ja der verliehene Beamte mit geringen Bezügen. Sollte man die Entlohnung der öffentl. Bediensteten anpassen? Das ist auch Servicesektor.

  2. Häschen sagt

    Für mich beschränkt sich Wettbewerbsfähigkeit nicht auf Entlohnung allein. …

  3. Wer einen niedrigen Lohn zahlt, bekommt auch geringe Leistung. Soweit richtig. Aber nicht jeder Arbeitgeber braucht Spitzenleistung. Im Grunde genommen braucht kaum ein Arbeitgeber Spitzenleistung …

  4. Zitat:
    Der Arbeitsmarkt reagierte erst, als der weiter verschärfte Lohndruck durch die Hartz-Reformen es ermöglichte, vor allem im Dienstleistungssektor und vor allem für den Binnenmarkt viele gering bezahlte Stellen zu schaffen.

    Danke. So schön einfach und klar lese ich das selten.

    Fazit1: diverse Jobs gibt es nur dann, wenn preiswerte Arbeitskräfte verfügbar sind.
    Fazit2: offenkundig haben wir in D einen erheblichen Anteil Arbeitskräfte, die nur dann einen Job finden, wenn sie ihre Arbeitskraft preisgünstig anbieten.

    Das ist weder gut noch schlecht sondern es ist wie es ist. Ob und das nun gefällt oder nicht.

    Und wenn es uns nicht gefällt, dann können wir diesen Personenkreis natürlich von der Arbeit freistellen (e.g. via Mindestlohn, bedingungslosen Grundeinkommen usw. usf.). Bezahlen werden das diejenigen, die arbeiten.

  5. 2 Fragen:
    1.) Spielt es für die Lohnstückkosten nicht auch eine wesentliche Rolle, dass zum einen auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit Mitte der 90er Jahre die Gewerkschaften stärker auf Jobgarantien als auf Lohnerhöhungen setzten und zum anderen zeitgleich von der Privatisierung von Bahn, Post und Telekom mehrere hunderttausend Menschen betroffen waren?
    2.) Ich stelle heute mit 10 Mitarbeitern 100 Einheiten eines Produktes her. Durch Investition in eine neue Maschine stelle ich zukünftig mit 2 Mitarbeitern 200 Einheiten her. Welche Folgen hat dies für Lohnstückkosten und die Arbeitslosigkeit? Lässt sich damit auch erklären, wieso niedrigere Lohnstückkosten und höhere Arbeitslosigkeit gar kein Widerspruch sind?

  6. @mister-ede

    zu 2): Entgeht mir da etwas?
    a) Für die Arbeitslosigkeit hat das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen vermutlich einen Effekt Richtung: steigt. Trivial, oder nicht?
    b) Für die Lohnstückkosten – nun dafür brauchst Du nicht nur die Kosten der Arbeit(nehmer) sondern auch die Investition in die Arbeitsplätze – sage ich mal ganz platt als nicht BWLer und lasse mich gerne korrigierne.

    Allerdings habe ich den Verdacht, Du möchtest auf etwas anderes hinaus. Nur auf was?

  7. @mister-ede,
    1) ist vollkommen richtig. Und dieser Aspekt fehlt mir halt in dem Artikel von Dunstmann & Co. weitgehend. Natürlich reagierten die Gewerkschaften ab Mitte der 90er Jahre vor allem auf die hohe Arbeitslosigkeit.
    2) Die Lohnstückkosten fallen natürlich dramatisch, insofern hast du auch hier in der kurzfristigen Betrachtung recht. Es könnte aber sein, dass die entlassenen Arbeitskräfte in anderen Branchen händeringend gesucht werden.
    Die Investitionskosten spielen übrigens bei der Berechnung der Lohnstückkosten keine Rolle (@uwe).

  8. Häschen sagt

    @Wirtschaftswurm – Danke. Das ist auch wieder wahr.

  9. Die Studie geht schon begrifflich von einem falschen Konzept aus. Nicht die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist in den letzten 20 Jahren gestiegen, sondern die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Das ist ein sehr großer Unterschied.

    Die gesunkenen Lohnstückkosten sind ja zu einem erheblichen Teil durch Produktionsverlagerungen Richtung Osteuropa/damalige Reformstaaten entstanden. Teure Produktionsstätten hierzulande schließen und dort wieder aufmachen = sinkende Lohnstückkosten in Deutschland. Man kann dies am Anteil der importierten Vorleistungen an der Wertschöpfung der deutschen Exporte nachverfolgen, der jahrzehntelang angestiegen ist.

    Das Problem des Standortes Deutschlands ist dasselbe wie vor 20 Jahren: Die Unternehmen investieren zuwenig in Deutschland. Durch Hartz IV hat sich das nicht (wie klassischerweise in Deutschland) in höherer Sockelarbeitslosigkeit niedergeschlagen, sondern in stagnierenden Löhnen.

    Am Problem der Wettbewerbsfähigkeit des Invetitionsstandortes hat sich aber nichts geändert. Die großen Schwachstellen sind dieselben wie 1993.

  10. Andreas sagt

    Nicht allein die geringen Lohnstückkosten haben zur sinkenden Arbeitslosigkeit geführt, sondern – und wohl vor allem – die zeitliche Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse bzw. die Möglichkeit, durch die Umwandlung regulärer Vollzeitstellen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse Regulierungsarbitrage zu betreiben. Betrachtet man allein die in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden, kann ja von keinem Boom auf dem Arbeitsmarkt gesprochen werden, denn diese stagnieren/sinken. Das ist m.E. die Auswirkung der Hartz-Gesetze: Sie haben nicht zu einem Boom der Arbeitskräftenachfrage in Stunden geführt, sondern zu einer Umverteilung der Arbeit bzw. zu einem Boom der Arbeitskräftenachfrage in Personen. Das hat zweifellos den Arbeitsmarkt entlastet, aber selbsttragendes Wachstum konnte nicht generiert werden.

  11. @Uwe: Ich wollte durch die zwei Fragen mehrere verschiedene Punkte anschneiden.

    1. Kann eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit tatsächlich die Probleme am Arbeitsmarkt lösen, explizit dann, wenn die Steigerung im Wesentlich auf der Automatisierung der Produktionsprozesse beruht?
    2. Wie gehen wir denn damit um, dass einfachere Tätigkeiten zunehmend ersetzt werden?
    3. Es steckt darin die Frage, ob der Nutzen aus der zusätzlichen Wettbewerbsfähigkeit die gesellschaftlichen Kosten aus höhere Arbeitslosigkeit überwiegt.
    4. Es sollte aber auch anregen mal insgesamt über die Frage nachzudenken, was passiert wenn für viele Menschen im automatisierten Produktionsprozess kein Platz mehr ist. Es stellt sich dabei ja vor Allem die Frage, wie diese Menschen dann ihren Lebensunterhalt bestreiten.

    (Anmerkung zu 4: Für ein Unternehmen sind die besten Kosten immer die, die gar nicht entstehen. Ich gehe deshalb fest davon aus, dass es irgendwann mal so sein wird, dass man als Kunde zuhause seine Bestellung eintippt, das Unternehmen die Bestellung automatisch erfasst und ein Computerprogramm den Auftrag an die passende Stelle im Produktionsprogramm setzt. In der Produktion fertigen dann vollautomatische Roboter das bestellte Produkt und es kommt zur Auslieferung, wo das fertige Produkt von einer Transportdrohne aufgenommen wird und zu dem Kunden gebracht. Die automatisch generierte Rechnung kommt zum Kunden, und wenn alles gut läuft war, außer dem Kunden selbst, kein einziger Mensch an diesem Prozess beteiligt. In der Folge bedeutet das Lohnstückkosten = 0 .)

  12. @Arne Kuster
    An Ihren Satz „Es könnte aber sein, dass die entlassenen Arbeitskräfte in anderen Branchen händeringend gesucht werden“, würde ich gerne anschließen und ins normative überleiten. Es sollte so sein, dass Arbeitskräfte die im Produktionsprozess freigesetzt wurden oder werden, für entsprechende neue Aufgaben qualifiziert werden. Das könnte eine Ausbildungs- oder Umschulungsoffensive für den Bereich Erziehung oder Pflege sein, die Weiterbildung im Bereich IT, Computer, Netz oder schlicht die Möglichkeit im zweiten Anlauf die eigene Qualifikation ausweiten zu können, z.B. durch die Hochschulreife, eine Ausbildung oder einen Hochschulabschluss.

  13. @Arne Kuster
    Danke für die Info. Lohnstückkosten sind also reine Lohn- und Lohnnebenkosten geteilt durch Stückzahl. Ich lerne.

    @Andreas
    Zitat: Betrachtet man allein die in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden, kann ja von keinem Boom auf dem Arbeitsmarkt gesprochen werden, denn diese stagnieren/sinken.

    2012: ca. 58000 Mio h
    2003: ca. 55000 Mio h (Tiefpunkt)
    1993: ca. 58000 Mio h
    Quelle IAB und stat. Ämter

    Von Stagnieren / Sinken würde ich da nicht sprechen. Immerhin konnten seit 2003 die Verluste des vorherigen Jahrzehnts wieder aufgeholt werden. Sicherlich auch eine Auswirkung der Schaffung / Besetzung geringbezahlter Stellen.

    @mister-ede
    Danke.

    Zitat
    3. Es steckt darin die Frage, ob der Nutzen aus der zusätzlichen Wettbewerbsfähigkeit die gesellschaftlichen Kosten aus höhere Arbeitslosigkeit überwiegt.

    Die Frage ist m.E. falsch formuliert. Sie impliziert, dass bei gleichbleibender oder sinkender Wettbewerbsfähigkeit die Arbeitslosigkeit gleichbleiben oder sinken würde. Da wir global im Wettbewerb stehen, ist diese Implikation m.E. falsch.

    Zitat 4. Es sollte aber auch anregen mal insgesamt über die Frage nachzudenken, was passiert wenn für viele Menschen im automatisierten Produktionsprozess kein Platz mehr ist. Es stellt sich dabei ja vor Allem die Frage, wie diese Menschen dann ihren Lebensunterhalt bestreiten.

    Das bewegt mich seit längerem. Nur leider ohne wirklich brauchbare Ideen. Und es geht nicht nur um Lebensunterhalt sondern auch um sinnvollen Lebensinhalt.
    Zynisch wäre es anzunehmen, dass die USA Heimatschutzbehörde genau über diese Frage nachgedacht hat und deshalb ihre Waffenarsenale bis zum Platzen füllt.

  14. @Tim,
    „Nicht die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist in den letzten 20 Jahren gestiegen, sondern die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Das ist ein sehr großer Unterschied.“ – Nein, da sehe ich keinen Unterschied. Wenn die zugelieferten Komponenten nun billiger sind, das Endprodukt aber zum selben Preis verkauft werden kann, dann ist das schon eine Leistung des Unternehmens, das das Endprodukt fertigt.
    @mister-ede,
    „Kann eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit tatsächlich die Probleme am Arbeitsmarkt lösen“ – Genau das bezweifele ich ja auch.

  15. Andreas sagt

    @Dirk
    Korrekt, wenn man 2005 als Maßstab nimmt. Wenn das Arbeitsvolumen heute jedoch noch auf dem Stand von 1993 (oder 2000) liegt, nenne ich das keinen Beschäftigungsboom. Und auch bei Berücksichtigung von 2005-2012 only bleibt es dabei, dass die Zahl der Erwerbstätigen deutlich stärker gestiegen ist als das Arbeitsvolumen.

  16. @Andreas

    Ich heisse zwar Uwe und nicht Dirk, aber das war wohl einen Antwort auf meine Daten / Äusserung.

    Die Zahlen zeigen deutlich eine Verschlechterung der Beschäftigungslage vor der Einführung und eine Verbesserung nach der Einführung. Hartz IV Nicht mehr, nicht wengier. Ob das nun ein „Boom“ ist oder nicht, das mag jeder für sich definieren.

    Sicherlich stimmt die Beobachtung, dass die gearbeiteten Stunden sich auf deutlich mehr Beschäftigte verteilen. Das scheint mir auch durchaus sinnvoll zu sein und besser, als wenn einige Vollzeit arbeiten und andere keine Arbeit haben und von den Sozialkassen leben müssen.

  17. Andreas sagt

    @Uwe
    Wie komme ich nur auf Dirk? Sorry. Damit deine Story passt – Hartz IV = Mehr Beschäftigung durch Niedriglöhne + Umverteilung der Arbeit – müsste sie sich allerdings noch in weiteren Daten finden. Diese geben eine solche Deutung jedoch nicht her. Das Zurückbleiben der Arbeitnehmerentgelte hinter der Entwicklung des Volkseinkommens hat lange vor 2005 begonnen und seither ist eher ein gegenläufiger Trend zu erkennen (https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/VolkswirtschaftlicheGesamtrechnungen/lrvgr04.html#Fussnote1a). Auch die Ausweitung von Niedriglohnbeschäftigung hat lange vorher begonnen (IAQ (2013): Niedriglohnbeschäftigung 2011).

    Ich würde daher eher Dustmann et al. folgen, dassdie strukturelle Veränderung des Arbeitsmarktes weit weniger durch die Hartz-Reformen verursacht worden ist als allgemein angenommen. Hartz hat diesen Trend allerdings zementiert und zu einer weiteren Ausfaserung der Beschäftigungsverhältnisse beigetragen. Ist das insgesamt positiv? Die Frage ist, ob das insgesamt eine nachhaltige Entwicklung ist. Ich glaube, dass es aufgrund der Effekte auf die Binnennachfrage nicht so ist. Zum einen ist die schwache Entwicklung der Reallöhne ursächlich für die deutsche Konsumschwäche. Zum zweiten ist die Forcierung des Niedriglohnsektors mitursächlich für die deutsche Investitionsschwäche.

  18. @Andreas:
    Meine Wahrnehmung zur Arbeitsmarktentwicklung:
    Entwicklung noch zur Kohl-Zeit waren aus meiner Sicht Privatisierungen von Staatsunternehmen und Lohnzurückhaltung auf Grund von steigender Arbeitslosigkeit. Unter rot-grün wurden dann die Minijobs (630-Mark Job) eingeführt, das dürfte eine wesentliche Veränderung gewesen sein. Viele, die bis dahin nicht offiziell erfasst wurden, sind dann in die Statistiken und auch in Sozialabgaben gerutscht (Pauschalsteuer für AG). Ferner hat die deutliche Liberalisierung der Arbeitnehmerüberlassung zu einer großen Umschichtung regulärer Arbeit auf Leih- und Zeitarbeit geführt.

    Aus meiner Sicht müssten die Anreize für reguläre Beschäftigung gestärkt werden. Leih und Zeitarbeit als Instrument muss auf die Zielsetzung der Flexibilisierung begrenzt werden. Mit Obergrenzen muss eine zu weitgehende Verlagerung hin zu solchen Beschäftigungsformen beendet werden. Werkverträge müssen in den Blick rücken. Ich halte es auch für einen Fehler, dass auf Minijobs zurzeit niedrigere Sozialbeiträge anfallen (Pauschalsteuer), dies kann ungewollt zusätzliche Anreize zu einer Verlagerung setzen. Ich plädiere insgesamt für eine Umgestaltung der Sozialversicherung so dass in der Breite die Lohnnebenkosten etwas sinken, durch höhere Beitragsbemessungsgrenzen aber in der Spitze steigen.

  19. @Andreas

    Ein auffälliges Zurückbleiben der Arbeitnehmeranteile am Volkseinkommen erschliesst sich für mich nicht aus der langen Reihe auf die Du verweist. Nach der Reihe schwankt das um weniger als +/- 5% um die 70%. Mal drüber, mal drunter.
    1970 66%
    1980 73%
    1990 68%
    2000 72%
    2010 66%

    Wenn man dann noch sieht, wie stark diese Daten von Jahr zu Jahr schwanken können z.B. 1991/92 3%, 2003/2004 3%, dann sieht das für mich wie Rauschen aus. Sorry, bin halt Naturwissenschaftler und nicht Volkswirt.

    Was mir eindeutig aussieht:
    – Die insgesamt gearbeiteten Stunden / Jahr in D sind seit Hartz deutlich gestiegen, vorher deutlich gesunken.
    – Die Anzahl Stunden/Person ist gesunken
    – Der Anteil Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen hat sich nicht wesentlich geändert (für mich erstaunlich, ich hätte mit einem Absinken gerechnet und einem Ansteigen der Kapitaleinkünfte, die in der langen Reihe leider nur gemeinsam mit den Unternehmereinkünften ausgewiesen werden, als ob die Arbeitnehmer-Haushalte keine Kapitalerträge hätten, seltsam).

    Zu Deinen weiteren Annahmen, z.B. – Zitat „die Forcierung des Niedriglohnsektors mitursächlich für die deutsche Investitionsschwäche“. Wie kommst Du darauf? De anderen Europäer haben den Niedriglohnsektor nicht gefördert, haben deutlich höhere Arbietslosigkeit und – soweit ich glaube (habe leider keine Zahlen) – eine noch ausgeprägtere Investitionsschäche.

    Irgendwas haben wir in D in den letzten 10 Jahren offenkundig richtig gemacht. Nur wollen wir das selbst nicht wahrhaben und sind gerade dabei das mit dem Hintern wieder umzustossen.

  20. @ Andreas

    PS
    Die Bewertung der Schwankungen als Rauschen kann natürlich auch auf die gearbeiteten Stunden angewendet werden. Das sind auch nicht mehr Prozent Schwankungsbreite. Alles ziemlich schwammig. Deswegen kann man das ja auch so lange hin und her wenden und interpretieren.

    Bezgl. bereits vor 2005 vorhandenem Niedriglohnsegement: Evt. fehlte da der Druck, die Arbeitskraft auch anzubieten? Und mangels Arbeitskräfteangebot kein Stellenzuwachs?

  21. Andreas sagt

    @Uwe
    Wenn Du die Zeitreihen zu Volkseinkommen, Arbeitnehmerentgelten und Unternehmens-/Vermögenseinkommen mal visualisierst, wirst Du erkennen, dass die Arbeitnehmerentgelte bis Anfang der 2000er Jahre mit relativ wenigen Schwankungen im Gleichklang mit dem Volkseinkommen gestiegen sind. Den Strukturbruch gab es 2002/2003, seither verlaufen sie unterhalb des Volkseinkommens. Die Entwicklung der Unternehmens-/Vermögenseinkommen verlaufen spiegelbildich seither zum Teil deutlich oberhalb des Volkseinkommens. Das sind dauerhafte Entwicklungen, keine zufälligen Schwankungen. Sicher beziehen auch Arbeitnehmer Vermögenseinkommen. Wie ungleich die Vermögensverteilung in Deutschland ist, dürfte aber bekannt sein.
    Die Investitionsschwäche hat viele Grunde und die sind in jedem Land anders, daher schreibe ich ja auch: mitursächlich. Der Grund für einen Einfluss des Niedriglohnsektors ist, dass über den durch staatlich Sozialleistungen subventionierten Niedriglohnsektor, in dem mittlerweile knapp 24% der Beschäftigten arbeiten, unproduktive und arbeitsintensive Unternehmen gefördert werden. D.h.: (a) werden volkswirtschaftliche Ressourcen in einen unproduktiven arbeitsintensiven Bereich umgeleitet und (b) werden dort zusätzlich Anreize gesetzt, durch Lohnersparnisse statt durch Innovationen Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Beides wirkt sich negativ auf Investitionen bzw. Investitionsbereitschaft aus. Die kaum wachsenden oder sogar sinkenden Umsätze in diesem Bereich, etwa im Gastgewerbe, verschärfen diesen perversen Wettbewerb noch. Ich würde es für mittel- bis langfristig wesentlich Beschäftigungsfördernder halten, durch existenzsichernde Mindestlöhne die unproduktiven Unternehmen aus dem Markt zu eliminieren und die bisher versteckten Subventionen offen in produktive Sektoren umzuleiten.

    Zum Niedriglohnsektor vor 2005: Die Zahlen des IAQ zeigen ja gerade ein starkes Anwachsen der Beschäftigung im Niedriglohnsektor bereits seit 1995. Die Arbeitskraft wurde also offensichtlich angeboten, schließlich werden hier keine offenen Stellen ausgewiesen, sondern bestehende Beschäftigungsverhältnisse. Das erst Druck durch Hartz IV zum Wachsen des Niedriglohnsektors geführt hat, kann daher ausgeschlossen werden. Vielmehr war es schlicht und einfach der ökonomische Druck, wie auch immer Geld zu verdienen, der eine Beschäftigung in diesem Sektor veranlasst hat. Es gibt nämlich gar nicht soviele Faulpelze unter den Hartz IV Empfängern, die erst durch Sanktionsandrohungen zu Arbeit motiviert werden müssen. Und die Faulpelze, die es gibt, erreicht Hartz IV auch nicht: Da sie kaum vermittelbar sind, die ARGEn aber hohe Vermittlungszahlen ausweisen müssen, wird diese Gruppe zumeist aufgegeben. Und vielleicht ist das auch eine billigere Lösung als die Errichtung einer neuen Armenpolizei.

  22. @Andreas

    Danke für die ausführliche Antwort. Ich habe mir den IAQ Bericht 2013/1 gezogen. Interessant.
    Danach ist der Anteil der Beschäftigen mit Niedriglohn (< 9,11EUR/h in 2011 nach IAQ Definition) tatsächlich bereits seit 1995 gestiegen.
    1995: 19,0
    2000: 21,6
    2005: 23,6
    2010: 24,6 (2011 dann aber auch wieder nur 23,9, soviel zu den Schwankungen)

    Demnach sieht es so aus, als ob Hartz IV nur geringen Einfluss auf die Anzahl Beschäftigte mit Niedriglohn hatte. Die seit Hartz neu geschaffenen Stellen wären also weitgehend besser bezahlte, prima. Allerdings fehlen mir im IAQ Bericht sowohl Daten von vor 1995 also auch absolute Beschäftigungsstunden und wie weit das jeweils Zusatzbeschäftigungen sind. Dadurch hat es jede Menge Gestaltungsspielraum für den Statistikerzeuger die von ihm gewünschte Interpretation zu implizieren – zumal laut Bericht auch noch die Basis der herangezogenen Personenkreise geändert wurde.

    Die Idee mit der Visualisierung habe ich umgesetzt. Faszinierend. Einkommen über Zeit zeigen einmal einen massiven Arbeitnehmereinkommenssprung um 1990 (vermutlich Wiedervereinigung, mehr Arbeitnehmer verdienen mehr; kaum mehr Unternehmer verdienen eher weniger??) und dann ein gegenläufiger Sprung bei den Unternehmer&Kapitaleinkommen in ca. 2005/2007 der dann bis 2013 wieder weitgehend abgebaut wird. Versuchsweise habe ich eine Regressionsdarstellung gemacht, Unternehmer&kapital über Arbeitnehmereinkommen. Wirklich sehenswert, wie sich die Sprünge zugunsten der einen und der anderen Gruppe über die Zeit ausgleichen. Kein Wunder angesichts der Zahlen 1970: 66% Arbeitnehmeranteil, 2013: 67%.

    Du machst mehrere Annahmen/Aussagen, die ich so wie ich sie verstehe für irreführend / falsch halte.

    a) Die Zuordnung der Kapitaleinkünfte zu Unternehmereinkünfte
    Sämtliche Mietshäuser oder Vermögen von Arbeitnehmern, Rentern ob ererbt oder erarbeitet werden Unternehmern zugewiesen. Ohne stützende Daten ist das für mich grob falsch, zumal bei den einschlägigen Auswertungen (z.B. Armutsgefährdungsbericht) regelmässig Lebensversicherungen und andere Rücklagen beim Unternehmer (ohne Pensions-/Rentenanspruch) als Vermögen erfasst werden, Pensions und Rentenansprüche der Arbeitnehmer aber nicht – sowas verzerrt das Bild kräftig.
    Und im Kontext Investitionsschwäche und Vergleich mit Ausland – der Gini Faktor Deutschlands liegt erfreulicherweise auf der guten Seite aller größerer Volkswirtschaften. USA, Russland, China, Indien, Frankreich, UK, Italien, Spanien etc. sind allesam deutlich ungleicher bis minimal besser verteilt. Die Verteilung mag in den letzten Jahren ungleicher geworden sein, nur ist das angesichts Globalisierung mit riesigem Arbeitskräftepotential insbesondere im wenig qualifizierten Bereich auch kein Wunder, oder? Zu glauben, wir als kleines Deutschland könnten die Welt ändern, das wäre wohl vermessen.

    b) "mit Sozialleistungen subventionierten Niedriglohnsektor" und dadurch fehlallokierte Ressourcen in "unproduktive, lohnintensive Unternehmen". Zum einen erkenne ich keine Subvention für den Niederlohnbereich sondern im Gegenteil sogar eine Ressourcenersparnis für die Gesellschaft. Und zum anderen werden durch "Eliminierung arbeitsintensiver, unproduktiver Unternehmen" keine Jobs geschaffen sondern welche vernichtet.

    Eine Subvention wäre eine Zahlung, die ohne den subventionierten Sachverhalt nicht fliest. Welche sollte das im Niedriglohnsektor sein? Fliessen Zahlungen vom Staat an den Unternehmer für Beschäftigung im Niederlohnsektor? Nein. Ist die ggf. Aufstockung an den Arbeitnehmer höher, als wenn er keinen Job hat? Auch nein. Ohne diese Jobs würden demnach durch Zahlungen an Arbeitslose mehr Ressourcen gebunden als mit diesen Jobs und das Steueraufkommen wäre obendrein auch noch niedriger. Nur falls die Niederlohntätigkeit großenteils durch besser bezahlte Tätigkeiten ersetzt werden könnte, lediglich dann würden geringere Ressourcen gebunden oder gar neue freigesetzt.
    In Teilbereiche wird Mindestlohn zumindest eingeschränkt funktionieren, einverstanden. Da denke ich an Dienstleistungen, die weder automatisierbar sind noch exportiert werden können, z.B. Friseur, Reinigungspersonal, Hotelpersonal, Gartenhelfer. Bei industriellen Jobs kann ich mir das in einem globalen, kompetitiven Umfeld aber nicht vorstellen. Bei Eliminierung dieser "bösen" Unternehmen durch existenzsichernde Mindestlöhne werden diese Jobs eleminiert. Und das gleich zusammen mit einigen anderen besser bezahlten Jobs (eg. Textilindustrie in den 90er). Im günstigeren Fall wird eine Machine angeschafft. Das zweite ist dann die gewünschte Investition. In beiden Situationen haben wir anschließend einige Arbeitslose mehr. Finanziell ein Schuss ins Knie für die Gesellschaft.

    PS – Zur Vermeidung von Missverständnissen: ich halte schlecht bezahlte, industrielle Jobs samt Aufstockung keineswegs für eine gute Sache. Nur fehlt mir die sinnvolle Alternative. Und daher schließe ich das Gegenteil von Deiner Aussage, nämlich dass wir eher mehr solcher (angeblich) unproduktiver Unternehmen benötigen, um die Arbeitnehmer ressourcensparend zu beschäftigen, die sonst keine Chance haben. Das gilt mindestens für alle Unternehmen, die keinen Zuschuss vom Staat erhalten, sondern auf eigenen Beinen stehen.

    PS2 – als Einpersonenunternehmen stört mich an dieser Mindestlohndiskussion im übrigen massiv: Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden staatlicherseits bevormundet und ggf. von der Schaffung einer Stelle abgehalten, um den Arbeitnehmer vor schlecht bezahlter Arbeit zu schützen. Beim Unternehmer selbst kommt keiner auf die Idee, ihm die eigene schlecht bezahlte Arbeit zu verbieten. Bei dem ist allen offenkundig, dass das eine Unsinnsidee wäre.

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