Es ist immer wieder verblüffend, wie schnell die offizielle Eurorhetorik zusammenbricht, wenn man nur ein paar einfache Daten analysiert. So wird häufig behauptet, dank des Euros wächst Europa zusammen. Auch Angela Merkel sagte z.B. auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos, Europa wachse in der Krise zusammen. Wenn damit aber gemeint ist, dass sich die nationalen Volkswirtschaften der Eurozone immer mehr in einem Gleichklang bewegen und sich ihre Wachstumsraten immer mehr aneinander annähern, dann sieht die Wahrheit (leider) anders aus.
Ich habe mir mal auf den Eurostat-Seiten die Zahlen zum Wirtschaftswachstum der Jahre 2000-2011 in der Eurozone herausgesucht. Meine Frage war: Haben sich die Wachstumsraten in den verschiedenen Staaten aneinander angenähert?
Hier die Rohdaten über das Wirtschaftswachstum:
2000 | 2001 | 2002 | 2003 | 2004 | 2005 | 2006 | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | |
Euro-17 | 3,8 | 2,0 | 0,9 | 0,7 | 2,2 | 1,7 | 3,3 | 3,0 | 0,4 | -4,3 | 1,9 | 1,5 |
Belgien | 3,7 | 0,8 | 1,4 | 0,8 | 3,3 | 1,7 | 2,7 | 2,9 | 1,0 | -2,8 | 2,3 | 1,9 |
Deutschland | 3,1 | 1,5 | 0,0 | -0,4 | 1,2 | 0,7 | 3,7 | 3,3 | 1,1 | -5,1 | 3,7 | 3,0 |
Irland | 9,3 | 4,8 | 5,9 | 4,2 | 4,5 | 5,3 | 5,3 | 5,2 | -3,0 | -7,0 | -0,4 | 0,7 |
Griechenland | 3,5 | 4,2 | 3,4 | 5,9 | 4,4 | 2,3 | 5,5 | 3,0 | -0,2 | -3,3 | -3,5 | -6,9 |
Spanien | 5,0 | 3,7 | 2,7 | 3,1 | 3,3 | 3,6 | 4,1 | 3,5 | 0,9 | -3,7 | -0,1 | 0,7 |
Frankreich | 3,7 | 1,8 | 0,9 | 0,9 | 2,5 | 1,8 | 2,5 | 2,3 | -0,1 | -2,7 | 1,5 | 1,7 |
Italien | 3,7 | 1,9 | 0,5 | 0,0 | 1,7 | 0,9 | 2,2 | 1,7 | -1,2 | -5,5 | 1,8 | 0,4 |
Niederlande | 3,9 | 1,9 | 0,1 | 0,3 | 2,2 | 2,0 | 3,4 | 3,9 | 1,8 | -3,5 | 1,7 | 1,2 |
Österreich | 3,7 | 0,9 | 1,7 | 0,9 | 2,6 | 2,4 | 3,7 | 3,7 | 1,4 | -3,8 | 2,3 | 3,1 |
Portugal | 3,9 | 2,0 | 0,8 | -0,9 | 1,6 | 0,8 | 1,4 | 2,4 | 0,0 | -2,9 | 1,4 | -1,6 |
Slowakei | 1,4 | 3,5 | 4,6 | 4,8 | 5,1 | 6,7 | 8,3 | 10,5 | 5,8 | -4,9 | 4,2 | 3,3 |
Finnland | 5,3 | 2,3 | 1,8 | 2,0 | 4,1 | 2,9 | 4,4 | 5,3 | 0,3 | -8,4 | 3,7 | 2,9 |
Die Länder unter 4 Millionen Einwohner habe ich weggelassen, denn die Wirtschaftsentwicklung solch kleiner Einheiten ist stark von der Entwicklung der regional verankerten Branchen abhängig. Man kommt damit in Bereiche, die von einer regionalen Strukturpolitik angesprochen werden müssen. Mir geht es allerdings nicht um die Güte regionaler Strukturpolitik, sondern um die Wirkungen eines gemeinsamen Währungsraums und einer zentralisierten Geldpolitik.
Das übliche Maß für die Streuung innerhalb eines Datensatzes ist nun die Standardabweichung. Um die Frage zu beantworten, ob sich die Wachstumsraten der Eurozonen-Mitglieder einander angenähert haben, ist es darum sinnvoll, die Entwicklung der Standardabweichung der Wachstumsraten (bezogen auf den Durchschnitt der Euro-17) zu betrachten.
2000 | 2001 | 2002 | 2003 | 2004 | 2005 | 2006 | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | |
Standard-abweichung der Wachstumsraten | 1,85 | 1,23 | 2,02 | 2,42 | 1,48 | 1,93 | 1,90 | 2,43 | 2,02 | 1,72 | 2,21 | 3,54 |
Hier diese Entwicklung in einem Diagramm:
Man sieht es auch an der berechneten Trendgerade f(x). Die Streubreite der Wachstumsraten steigen tendenziell. Das heißt: Europa entwickelt sich wirtschaftlich auseinander.
Eine Erklärung für die Entwicklung braucht man nicht lange zu suchen. Vor der Eurozeit konnten Staaten mit unterdurchschnittlichem Wirtschaftswachstum ihre Währung abwerten. Ihre Waren wurden so im Ausland billiger und wurden daraufhin entsprechend mehr nachgefragt, was wiederum die Wirtschaft ankurbelte. Diesen Ausgleichsmechanismus gibt es seit dem Euro nicht mehr.
Je weiter nun das Wachstum im Euroland auseinanderdriftet, desto schwieriger hat es allerdings die EZB. Ihre zentrale Geldpolitik trifft auf völlig unterschiedliche Verhältnisse vor Ort. Sie kann damit immer weniger der jeweiligen nationalen Wirtschaftsentwicklung gerecht werden.
Sollte sich der Trend fortsetzen, steht die Zerreißprobe in der Eurozone noch bevor.
Mir gefällt die Idee mit der Standardabweichung recht gut.
Ein Frage. Ist es zulässig eine Schnitt über das Wachstum zu bilden. Selbst ein gewichtetes Mittel ändert ja wenig an der Tatsache, dass BIPs zu addieren etwas gewagt ist.
Soviel ich verstanden habe, aber die volkswirtschaftlichen Kennzahlen verwirren mich etwas, kann man ein BIP zwar verwenden über sehr kurze Zeiträume bezüglich der Entwicklung in einer Volkswirtschaft aussagen zu treffen, möglw. die Summe über den Knoten Euroländer noch aus der Finanzierungssicht ungeachtet dessen welche Struktur man finanziert. Liege ich da falsch?
Danke, auf jeden Fall ein sehr interessanter Blog!
Tut mir leid, ich verstehe deine Frage nicht.
Bei der Datenmenge und einem Regressionsfaktor von 0,32 eine valide Regressionsgerade aufzustellen und daraus einen Trend abzulesen ist wirklich Humbug. Es gibt keinen oben analysierten Trend. Es ist viel simpler bei den Leistungsbilanzunterschieden und den Nettoauslandsschulden mancher Euroländer muss es einfach den Euroraum zerreißen.
Die Trendgerade soll nur der Veranschaulichung dienen. Ich spreche ja auch lediglich von einer Tendenz hin zu größeren Unterschieden. Ob dahinter ein in einer einfachen Formel mathematisch darstellbarer Trend steht, lässt sich in der Tat nicht sagen. Da aber nicht nur die Zahlen für eine Tendenz zum „Auseinanderwachsen“ sprechen, sondern auch theoretische Überlegungen, scheint mir die Tendenz gesichert.
Hast Du da eine Gewichtung nach der absoluten Größe der Volkswirtschaften drin, Wirtschaftswurm?
@Teufel,
nein – nur in der Form, dass ich die ganz kleinen Länder gleich ganz weggelassen habe. Im Moment ist mir auch unklar, ob das die Analyse verbessert.
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Danke, stimmt die Frage fehlt. Sie wurde aber beantwortet.
Ist der Mittelwert über die Euro-17 ein Gewichtetes Mittel?
Um die Verwirrung vollständig zu machen: die Wachstumsrate für die Euro-17 ist ein gewichtetes Mittel oder (was dasselbe ist) einfach die Wachstumsrate der Summe der 17 BIPs. Diese Wachstumsrate der Euro-17 hat mir als Durchschnitt in der Formel für die Standardabweichung gedient. Die Wachstumsraten der Einzelstaaten sind ungewichtet in die Formel für die Standardabweichung eingegangen.
Ganz klarer Fall von Statistiken sind etwas für Statistiker 🙂
Mir wäre lieber gewesen, der Wirtschaftswurm hätte stattdessen eine Nachricht mehr aus Wirtschaft und Politik gründlich verdaut!
Da ich sowieseo mit den Daten des Groningen Growth und Development Centre etwas experimentiert hatte, habe ich mal Wirtschaftswurms Anregung aufgenommen. Deren Daten gehen bis 1950 zurück (ohne SK). Die Grafik zeigt minimale und maximale Wachstumsraten, das gewichtete Mittel und Standardabweichungen:
http://bit.ly/JYZX15
Normale und gewichtete StdAbweichung machen keinen wirklichen Unterschied (hellblau/lila). Ab 1975 gibt es m.E. immer wieder recht ausgeprägte Phasen der Divergenz und Konvergenz. Der Knick 2007 ist dabei gar nicht so außergewöhnlich. Beim Peak 1991/92 hatt’s jedoch den Wechselkursmechanismus zerissen. Der tiefe Einbruch war damals übrigens Portugal.
@WhatIsMoney,
letztlich kommt man aber ohne Zahlen in der Wirtschaft nicht aus.
@nurmalso,
danke für das Diagramm.
„Normale und gewichtete StdAbweichung machen keinen wirklichen Unterschied“ – Das hätte ich auch vermutet.
„Ab 1975 gibt es m.E. immer wieder recht ausgeprägte Phasen der Divergenz und Konvergenz. Der Knick 2007 ist dabei gar nicht so außergewöhnlich.“ Okay, aber bei den vorhergehenden Spitzen gab es noch keine Währungsunion. Wir bewegen uns also schon auf vorher noch nie betretenem Gelände.
„Beim Peak 1991/92 hatt’s jedoch den Wechselkursmechanismus zerissen.“ Tja, und soweit scheinen wir davon rein statistisch nicht mehr entfernt.
Übrigens. Regressionsgeraden reagieren besonders stark auf Ausreißer, da die Summe der Abweichungsquadrate minimiert wird. Würdest du die Ausreißer 2001 und 2011 aus deinen Datensätzen eliminieren, würde deine Regressionsgerade keine Steigung aufweisen und R² sehr viel größer. Nur 2001 zieht die Kurve am linken Ende nach unten und das Eurokrisenjahr, welches durch die Eurokrisenländer sowie eine hohe Standardabweichung aufweisen musste, am rechten Ende nach oben. Allein der Hauptausreißer in 2011 bestimmt im Wesentlichen deine Tendenz.
Da warten wir mal lieber 2012 ab, um zu sehen, ob das Jahr 2011 nur ein Ausreißer war.
@Bernd
Wenn du dir die lange Zeitreihe ansiehst, sieht man ab 2006/7 schon einen Knick mit Trend nach oben.
@Wirtschaftswurm
Schon klar. Nur war ich davon überrascht, daß der Anstieg nicht steiler ist. Welche Varianz eine Währungsunion verträgt, kann man aus dem Schaubild nicht ableiten, steigende Spannungen schon. Wie schwankt denn das Wachstum unter und wie synchronisiert ist die Konjunktur in den US Staaten? (Ja, dort gibt’s Ausgleichsmechanismen – aber als Vergleich…)
Ein Vergleich mit den USA wäre interessant. Aber man muss auch vergleichbare Einheiten dann vergleichen. Die US-Bundesstaaten sind im Durchschnitt kleiner als die Länder der Eurozone.
Danke!
@ Wirtschaftswurm
Um festzustellen, dass wir 2012 in den Eurokrisenländer in eine Rezession laufen, brauche ich die Trendanalyse wirklich nicht. Da reichen mir Target2 und Schirme. Die Regressionsgerade ist und bleibt Blödsinn.
Sorry, ansonsten bist Du sehr viel besser davor.
Gruß
Bernd
Da’s hierher schön passt: Jobs in the European Union, 2005-2011 (via merijnknibbe)
http://rwer.files.wordpress.com/2012/05/jobs1.png?w=600&h=392
Pingback: Inflation in Deutschland: Darf es auch ein bisschen mehr sein? | Wirtschaftswurm
Gegen Naturgesetze ist man machtlos, – auch das Universum dehnt sich aus… 🙂