Wirtschaftswurm-Blog

“Spätrömische Dekadenz” und mangelnde Arbeitsanreize?

übernommen aus Wirtschaftswende vom 19.2.2010

Ist der Anreiz für Hartz-IV-Empfänger, eine Arbeit anzunehmen, tatsächlich zu gering? Das Kieler Institut für Weltwirtschaft behauptet dies in einer aktuellen Studie und Guido Westerwelle sieht Deutschland aufgrund mangelnden Arbeitswillens schon scheitern.

Mit Westerwelle habe ich mich am Mittwoch schon befasst. Heute sind die Kieler Autoren Boss, Christensen und Schrader dran. In ihrer Studie rechnen sie für zahlreiche Modellfälle den Lohnabstand aus. Das ist die Differenz zwischen dem erzielbaren Lohn und den Hartz-IV-Bezügen. Die Modellfälle unterscheiden sich nach Qualifikation, Geschlecht, Wohnort und vor allem nach Familienstand, Anzahl der Kinder und ob der Partner mitverdient oder nicht. Für viele Modellfälle halten auch die Kieler Wirtschaftswissenschaftler den Lohnabstand für ausreichend. Einen zu geringen Lohnabstand sehen sie vor allem bei Alleinerziehenden und bei Familien, in denen beide Elternteile nicht erwerbstätig sind. Diese Gruppen hätten keinen Anreiz, sich um Arbeit zu bemühen.

Doch sehen wir uns einmal einen Fall an, den die Kieler als problematisch erachten: verheiratet, männlich, zwei Kinder, geringe Qualifikation und die Frau ist ebenfalls nicht erwerbstätig. Hartz IV macht selbst unter diesen Umständen nur 77 % des erzielbaren Nettoinkommens bei einer Vollzeitstelle aus. Anders ausgedrückt, durch eine Vollzeitstelle kann der Betroffene sein Nettoeinkommen um 30 % steigern. Berücksichtigt wurden natürlich auch das Wohngeld und der Kinderzuschlag, den unser Modellfall bekommen kann, wenn er eine Arbeit aufnimmt. Diese Transfers werden bei anderen solchen Beispielrechnungen ja oft unterschlagen.

Reichen 30 % Einkommenszuwachs als Arbeitsanreiz nicht aus? Die Kieler Autoren meinen das. Dies zeigt aber nur ihr weltfremdes Menschenbild, leider typisch für viele Ökonomen.

Tatsächlich ist die Entscheidung eines Hartz-IVlers, eine Arbeit anzunehmen, nicht nur eine Abwägungsentscheidung zwischen Geld und „Freizeitnutzen“, wie es die Wissenschaftler meinen. Abgesehen davon ist es schon zynisch, Arbeitslosen ihren „Freizeitnutzen“ vorzuhalten. Wenn man von einer 60-Stunden-Woche auf eine 40-Stunden-Woche heruntergeht, mag der Nutzen der 20 Stunden zusätzlichen Freizeit als sehr hoch empfunden werden. Wenn man von einer 40- zu einer 20-Stunden-Woche heruntergeht, mag auch noch ein Zusatznutzen da sein, wenn auch schon geringer. Ganz zuhause zu bleiben, bringt dagegen keinen weiteren Nutzen, eher im Gegenteil. Studien belegen vielfach, dass Arbeitslose unzufriedener sind, unter fehlenden sozialen Kontakten und mangelndem Selbstwertgefühl leiden. Und das völlig unabhängig von der Einkommens- und Vermögenssituation des Arbeitslosen.

Die Schlussfolgerungen der Wissenschaftler, Alleinerziehende und Eltern ohne Beschäftigung hätten keinen Anreiz, sich eine Arbeit zu suchen, beruht also auf widerlegten Hypothesen.


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